Sombak Mobotonga

Ganz offiziell ist das Hehlings-Fest eine Frühlingsfeier: Die Feldarbeit beginnt wieder, erste Saaten werden in die Erde gebracht. Vor allem aber wird von Gärten und Ställen der Winterschutz entfernt, wenigstens symbolisch, denn man muß ja noch mit Schnee und Frost rechnen. Gleichzeitig dankt man den Göttern – vor allem natürlich Schanurka – dafür, daß man gut über den Winter gekommen ist, Vieh und Vorräte nicht erfroren sind undsoweiter.

Dieses Fest wird überall in den Altmarken gefeiert, natürlich auch in Ligorosheim, wie ich nach meiner Rückkehr erfuhr, dort nur ein paar Tage später.

Als solches ist das Hehlings-Fest wohl wirklich „uralt“, wie der brav vorgetragene Festhymnus behauptet. (Der übrigens vor etwas mehr als hundert Jahren von einem Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft gedichtet worden war.)

Als „Hehlings-Feier“ geht es aber auf das 12. Jahr des Karpfens in unserem Welten-Zyklus zurück, ist jetzt also rund 340 Jahre alt.

Knapp drei Jahre vorher, im 9. Jahr der Spinne, waren die Lelub ins Land eingefallen, groteske Kreaturen, die bis dahin jeder Bürger des Lobesamen Reiches für Gruselgestalten aus Märchen und Sagen gehalten hatte. Sie kamen vom Meer und entvölkerten zuerst die Küstenregionen, bevor sie nach und nach ins Landesinnere vorstießen. Sie plünderten nicht, sie brandschatzten nicht, sie töteten bloß alles, was sich bewegte, und aßen es dann auf. (Zuweilen auch in umgekehrter Reihenfolge, wird erzählt.)

Natürlich konnte man gegen sie kämpfen. (Anders als viele Sagen behaupten, sind die Lelub weder unverwundbar, noch unsterblich.) Aber sie waren zahlreich, zogen in kleinen Gruppen umher und kamen oft in der Nacht. Hatten sie sich vollgefressen, verschwanden sie scheinbar spurlos. (Heute nehmen die meisten Gelehrten an, sie hielten einen Verdauungsschlaf im nächsten Gewässer.) Es ist schwer, gegen so etwas zu kämpfen.

In jener Zeit hatte jeder größere Ort oder Bezirk (auch in den Altmarken!) eine Art Magieberater, meist einen ausgebildeten Zauberer bzw. eine Zauberin. Dieser versuchte Mondkonjunktionen zu berechnen, beobachtete Magieknoten in der Umgebung, beriet die Leute bei Hausbau und Feldbestellung usw. usf.

(Ich gestehe Euch: Als ich im Geschichtunterricht erstmals davon erfuhr, wollte ich es nicht glauben und hielt diese hohe Stellung von Zauberern für eine abergläubische Verirrung jener Zeit. Inzwischen denke ich, daß das vielleicht gar keine schlechte Sache gewesen ist.)

Der damalige Berater von Rittertreu (bzw. Bockskappeln) war ein Lambeséle namens Sombak Mobotonga. Er war nicht nur ein äußerst fähiger Magier, sondern kam auch gut mit den Leuten zurecht. (Eine seltene Kombination!)

Als die Lelub Bockskappeln erreichten, „verhehlte“ (also: verbarg und schützte) er die Bewohner, indem er sie in Bäume, Sträucher und Blumen verwandelte, denn an Pflanzen hatten die fleischfressenden Meereskreaturen kein Interesse. Erst im Frühling hob Sombak den Zauber wieder auf. Diese Rettung und das Wiedererwachen feiern die Nunmehr-Rittertreuer mit dem Hehlings-Fest.

Inzwischen habe ich Eure Mutter gefragt, ob so ein Zauber überhaupt möglich ist. „Sombak muß die Leute und die Pflanzen sehr gut gekannt und sehr geliebt haben“, antwortete sie mir. Das sagte sie ungewöhnlich ernst, beinahe ehrfürchtig.

Abends bekam ich dann auch noch die wahre Hymne dieser Feier mit, einen Frage-und-Antwort-Gesang: „Wer kam vom Meer mit geschliffenen Zähnen? – Lelub! Lelub! – Wer läßt sie bald vor Hunger stöhnen? – Sombak Mobotonga! Sombak Mobotonga!“ Undsoweiter, undsofort, mit gefühlten hundert Strophen. Teils in altertümlichen Versen, teils in neu gedichteten, und je später die Stunde, desto gewagter wurden die Reime.

Zunächst hatte ich allerdings ein Problem: Der offizielle erste Teil dieser Feier geht normalerweise direkt in Tanz über, und dem folgt das große Schmausen. Stattdessen verlangten Frau Erla und ihr Mann Ruhe, Anstand und „Ehrfurcht vor Zipik’yarr“ … Was die Stimmung deutlich dämpfte, das Stimmengewirr aber kaum.

Die Fruchtbringende Gesellschaft

Ich weiß nicht, ob Euch, meine lieben Kinder, die Fruchtbringende Gesellschaft noch ein Begriff sein wird, wenn Ihr groß seid. Wenn ja, könnt Ihr das Folgende überlesen. Diese Vereinigung hat aber in den letzten Jahren so sehr an Bedeutung eingebüßt, daß sie vielen kaum noch mehr ist als eine fromme Legende, von der alte Leute erzählen. (Alte Leute wie ich zum Beispiel. Jaja …)

Diese Gesellschaft ist eine Art Orden, ursprünglich von Dienern der Schanurka und der Kamruscha gegründet, die Hymnen für Messen und Lehrgedichte verfaßten. Später wurden sogar Streiter der Zipik’yarr in diesen Orden aufgenommen.

Jedes neue Ordensmitglied bekommt einen Beinamen, ein Motto und eine Pflanze (seltener eine Tier oder einen Gegenstand) zugeteilt. Das Gedicht, das er zu seiner Aufnahme vorträgt, muß mindestens eins von den dreien zum Thema haben.

Ziel der Fruchtbringenden Gesellschaft ist vor allem die Verbreitung von praktischem Wissen (das Kuchenback-Lied mit den lustigen Bewegungen, das ich manchmal mit Dir spiele, Ixi, stammt daher!) und das Dichten und Komponieren von Götterhymnen. Daraus entwickelte sich ein Zweig, der nach dem Wesen und Willen der Götter forscht, um ihnen Gebete, Opfer, Tempel usw. so genehm wie möglich zu gestalten.

Soll zum Beispiel ein neuer Tempel errichtet werden, bittet man am besten ein Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, Bauplatz, -form und -materialien zu bestimmen. Gilt es, Gebete oder Loblieder in eine andere Sprache zu übertragen, kümmert sich die Fruchtbringende Gesellschaft darum.

Einmal war ich dabei, wie der Ort eines gräßlichen Massakers, in dem Dämonen gewütet hatten, als Totenanger eingesegnet werden sollte, damit die Seelen der Getöteten ihre Ruhe fänden. Da holte man mit großem Aufwand und in größter Eile von weither einen verhutzelten alten Lambeséle, der nicht mehr selber laufen konnte und scheinbar nur noch Unverständliches brabbelte. Das war Lambo der Stillvergnügte, der sich Nuluna und den Seelen der Toten gewidmet hatte! Tatsächlich soll der „Lambo-Hain“, der an der Stelle des Massakers entstand, immer noch ein Ort der Ruhe und des inneren Friedens sein, um den sich schon Wunder-Legenden gebildet haben.

Zweiter Empfang in Rittertreu

Als ich herauskam (diesmal Helm ab zum Durchtritt durch die Tür), war der Auflauf der Rittertreuer aufgelöst, und die Leute liefen wieder mit Brettern, Balken, Holzböcken und Körben voller Krempel hin und her.

Vor mir standen Norlak Nulunar von Karnstein, Erster Reichsheermeister etc. pp., samt Frau und Gefolgsleuten. (Darunter auch eine Ischarruka in Begleitung eines Menschenmannes, von denen ich annahm, sie seien irgendwelche Verwaltungsleute des Heermeisters.)

Ich war neugierig auf Karnstein, aber nicht mehr ehrfürchtig – ich hatte ja gerade vor einer viel höheren Macht, meiner Herrin Zipik’yarr, gestanden, und sie hatte freundlich gelacht!

Karnstein ist eine knappe Handbreit größer als ich, kantiges Gesicht, Haar und Bart mittelkurz, mittelblond und leicht gewellt. Sein Körper kampfgeübt, aber eher auf Wendigkeit als auf große Schlagkraft bedacht. Beim Tanz dürfte er eine ähnlich gute Figur machen wie beim Waffengang.

Frau Erla paßt zu ihm, auch wenn sie knochiger und ein wenig linkisch wirkt. Wäre ihre Haut nicht so blaß, könnte man sie für eine Limbeséle halten, zumal mit ihrem langen, gedrechselten Stab. – Ich hatte nicht gewußt, daß sie eine Zauberin ist!

Während wir noch durch den ganzen Sermon von Begrüßungs- und Höflichkeitsfloskeln gingen, kamen zwei weitere Gäste an: Eine ältere Schanurka-Priesterin, begleitet von einem jungen Priester, beide auf hellbraun und schwarz marmorierten Flumben.

(Ich habe noch nie auf so einer Riesenschnecke gesessen. Eine sehr schonende Art des Transports, heißt es, aber auch, sie seien schwer zu lenken. Außerdem hinterlassen sie Schleimspuren, riechen sonderbar fade, und man muß sie gut pflegen, sonst scheiden sie auch auf der Oberseite Schleim aus. Nichts für mich!)

Die beiden Priester boten mir die höchst willkommene Gelegenheit, mich beim Heermeister zu entschuldigen – Diener der Götter haben Vorrang vor weltlichen Herren!

(Das sehen die weltlichen Herrschaften natürlich oft anders. Aber im Lobesamen Reich können sie wenig dagegen tun, wenn jemand so handelt. Zumindest in der Öffentlichkeit müssen sie gute Miene dazu machen.)

Als ich der Schanurka-Priesterin aus ihrer Sitzschale half, merkte ich, daß auch sie nur äußerlich gute Miene dazu machte. Oder vielmehr säuerlich-höfliche. Als hätte ich ihr zum Willkomm einen Teller überlagerter Sauerwurzeln und einen Becher Essig gereicht, von der Sorte, die man im Alseland „Eisenbeißer“ nennt.

Ihr Begleiter schaute weit freundlicher drein, meinte allerdings damit nicht mich, sondern eine gertenschlanke blonde Maid im Gefolge des Heermeisters. (Der ich früher, als Jungpriester, vermutlich auch so dümmlich zugegrinst hätte wie er, ich gebe es ja zu.)

Als „Alma Witting die Schnegelhafte“ stellte sich Hochwürden Sauergesicht vor, mit derart gravitätischem Ernst, daß ich mich erst einmal verbeugte, um sie nicht mit offenem Mund anzustarren oder gar loszulachen.

Nisaba-sei-Dank erinnerte ich sich schnell daran, was solch ein Beiname bedeutet, und konnte angemessen reagieren: Ich hatte ein Mitglied der hoch angesehenen Fruchtbringenden Gesellschaft vor mir.

Daß ich das erkannte und mich schön ehrerbietig äußerte, goß Honig in den Sauerwein und ließ ihn gewissermaßen überlaufen. Die Fruchtbringende setzte schon an, einen selbst verfaßten Hymnus zu rezitieren, da entschuldigte ich mich abermals. Ich konnte ja nicht den Heermeister und seine Gattin einfach so stehen lassen!

Rast im Regen

Nördlich von Rodenhag ist Brelagsbronn eher hügelig als bergig. Westwärts hat man immer wieder einen weiten Blick übers Land, ostwärts fällt der Blick auf die scharf ansteigenden Berglehnen der Trayorben.

Leider konnten wir die Aussichten kaum genießen, denn Isgrimma und Taru stritten sich, ob es lustiger wäre, uns mit Schnee oder mit Regen einzudecken.

Mögen sie beide mir verzeihen, wenn ich das so dahersage! Aber das Wetter war wirklich zum Herz- oder vielmehr zum Kleidererweichen. Ein paar Mal hatte ich Bange, auf dem nächsten Hügel mit dem Kopf gegen die Wolken zu stoßen, so tief hingen sie.

Wenn man im Warmen sitzt, in trockenen Kleidern, mit Eintopf im Bauch und Bier im Becher, erzählt sich so etwas leicht daher. Aber wenn einem das kalte Wasser übers Gesicht läuft und in den Kragen, sobald man die Kapuze zurückschlägt, weil man sich umschauen will (meinen Helm hatte ich abgesetzt, wir sind ja eh niemandem begegnet), wenn einem alles klamm an der Haut klebt und man vor Kälte kaum noch die Zügel halten kann, weil selbst die Handschuhe durchgeweicht sind, dann fühlt man sich nur noch miserabel.

Selbst Rapunzel und Flocke ließen die Ohren hängen, daß sie aussahen wie Maultiere – bloß daß ein Maultier schon längst nicht mehr weitergegangen wäre, jedenfalls bestimmt nicht Funiquatsch.

Was waren wir froh, als sich ein seltsames Zeichen auf der Karte, das uns schon Sorgen gemacht hatte, als Unterstand herausstellte! Genau passend für uns und unsere triefenden Pferde, sogar mit trockenem Stroh! Herr Meluk hatte mir am Abend von diesen Wegstationen erzählt, aber ich hatte nicht mehr daran gedacht.

Mögen die Verwalter des Landes und des Weges uns verzeihen, daß wir uns recht freizügig am Stroh bedienten, damit trockenrieben und nachher sogar noch etwas davon unter die Kleider stopften.

Das piekt zwar und ist wahrlich nicht an allen Stellen angeraten, aber an manchen lasse ich mich lieber pieken, als nochmal das nasse Zeug auf der Haut zu spüren!

Frider war anfangs ein bißchen „schenant“, als wir uns, nackt wie von Sabze geschaffen, gegenseitig trockenrieben. Vielleicht traute er sich auch nicht so richtig wegen der vielen Narben, die ich trage. Er taute erst ein bißchen auf, als ich ihm ganz freimütig erzählte, wo ich mir die eine oder andere zugelegt hatte.

(Inklusive einer wohl recht beeindruckenden am Rücken, die aber bloß von einer Keilerei stammt, bei der ich rücklings auf einen Krug gefallen war. Weil ich danach die gleiche Senge bekommen hatte wie alle anderen Beteiligten, hatte der – ziemlich üble – Schnitt zwei- oder dreimal genäht werden müssen und war nicht besonders gut verheilt.)

Friders paar Schmisse kannte ich ja schon, und viel darüber erzählen wollte er nicht. Er ist als Gassenjunge aufgewachsen und ein paar Mal übel malträtiert worden.

Wir sind übrigens beide beschnitten. Ich, weil das im Tempel „Blut Zipik’yarr“ so üblich war, Frider wohl mehr wegen irgendeiner Krankheit, die er als kleiner Junge gehabt hatte.

Außerdem entdeckte Frider das Zeichen an meinem linken Unterarm (verflixt, er hat wirklich scharfe Augen!), das aussieht wie eine Eidechse, Sabzes Signum und Gestalt. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, was er aber nicht schaffte. Vor allem, weil er das Zeichen natürlich genauer anschauen wollte. Ich ließ ihn raten, was es wohl sei.

Zuerst vermutete er ein Muttermal. Im Stillen fragte er sich wahrscheinlich, ob ich nicht eigentlich zum Dienst an Sabze bestimmt gewesen wäre. (Nun ja, wer weiß, welch seltsame Wege die Götter gehen. Und Eure Mutter würde jetzt dazusetzen: „und was für Witze sie sich ausdenken“!)

Dann riet er: „Ein Zeichen von Frau Marsilea?“ (So nennt er Eure Mutter mir gegenüber.)

Danach wollte er nicht mehr weiterraten, auch wenn er sich wahrscheinlich alles mögliche Abenteuerliche, Tragische oder Mysteriöse dachte. Das ist es aber gar nicht, so daß es sich gar nicht lohnte, ihn noch viel länger hinzuhalten.

Ich warf mich aber trotzdem in Positur und tat geheimnisvoll: „Das …“ (hier ist natürlich eine bedeutsame Pause wichtig) „ist das Zeichen …“ (hier eine weniger bedeutsame) „des Bundes des Sankt Isilgur!“

Hier ließ ich Frider zwei oder drei Atemzüge lang überlegen, welchen wichtigen Heiligen er da wohl wieder vergessen hatte, dann klärte ich ihn (und damit nun auch Euch) ziemlich schnell und knapp auf:

Sankt Isilgur ist ein apokrypher Pseudo-Heiliger (noch apokrypher als Sankt Ligoro), den ein Jung-Archivar auf der Schwerterburg in alten Versen entdeckt hat.

Wir Jungstreiter gründeten damals diesen „Bund“, weil wir auch zu einem Elite-, Geheim- oder Sonstwas-Orden gehören wollten. (Eine der einfachsten Arten, sich zu etwas „Besonderem“ zu machen.)

Der Bund bestand, glaube ich, ganze sechs oder sieben Wochen, bevor er mit einem Donnerwetter (nicht Zipik’yarrs, sondern unserer Vorgesetzten) aufgelöst wurde. Zurück blieb nur dieses „Eidechsen“-Zeichen, das wir uns alle eingeritzt hatten und das eigentlich nichts anderes ist als das I und das darumgeschlungene S von „Sankt Isilgur“.

Die meisten von uns haben sich das Mal ziemlich bald rausgeschnitten oder -gebrannt, ich habe die Spötteleien darüber zum Anlaß für Zweikämpfe genommen – sicher ein Dutzend oder mehr.

Es sei angemerkt, daß ich damals schon zum Priester geweiht war, also durchaus kein Novize mehr, wie Ihr jetzt vielleicht gedacht haben werdet! (Manchmal verstehe ich den Ruf der „Nisabaferne“ (gröber ausgedrückt: Dummheit), die uns Streitern Zipik’yarrs zuweilen nachgesagt wird …)

Friders Reaktion war komisch. Er schaute mich an, als hätte ich mich mitten im Vortragen einer Heiligenlegende auf ein Bein gestellt und „Kikeriki“ gerufen.

Ich mußte selber lachen und dachte, das würde ihn ermuntern, endlich loszuprusten. Er verbiß es sich aber weiterhin – buchstäblich. „Isilgunde!“, platzte er endlich raus und wieherte (endlich) vor Lachen (so sehr, daß Rapunzel scheute). „Na, dann bin ich ja nur froh, daß es nicht aussieht wie ein Huhn“, meinte ich, aber so ganz schien das den Grund von Friders Heiterkeit nicht zu treffen. Worüber genau er sich so amüsierte, wollte er aber nicht sagen.

Irgendwann hatten wir uns genug warmgerieben, -gelacht und -gegessen, daß wir uns wieder dem Schneeregen stellen konnten. (Der etwas nachgelassen hatte. Dafür ging ein kalter Wind.) Zum Glück war es dann bis zum nächsten Dorf nicht mehr arg weit.

Sehr merkwürdiges Treffen bei Sonnleitners

Ich war einigermaßen überrascht, als ich erfuhr, daß auch Hochwürden Rothenloh dorthin eingeladen war. Und noch viel überraschter (nicht allzu freudig, wie Du Dir denken kannst), als wir am Tor auch noch mit einem gewichtigen Teharachtpriester und seinem Begleiter, einem älteren und recht säuerlich dreinblickenden Mann in der gelblichgrauen Tracht eines Teharachtnovizen, zusammentrafen.

(Natürlich ist Novizentracht schlichter als das Gewand eines vollwertigen Priesters, der seine Weihe erhalten hat, egal, welchem Gott er dient. Und natürlich sollen Novizen erst einmal Demut lernen, auch wenn ich das selber in meiner Novizenzeit nicht eingesehen habe. Aber muß eine Novizentracht deshalb aussehen wie etwas, was man nach Verspeisen unreifer Äpfel und argem Bauchgrimmen hinter der nächsten Hecke absetzt?! – Dieser treffende Vergleich stammt nicht von mir, sondern von Menitha Josenblatt, bis zu ihrem Schlachtentod bei Waldberg vor sechs Jahren Erste Reichsheermeisterin.)

Ein Hausdiener ließ uns ein – interessanterweise mich gleich hinter Hochwürden Rothenloh und vor dem Teharachtpriester. Ungewöhnlich in einem Haus der Sonnleitners! Da kommt sonst Teharacht immer an erster Stelle, spätestens an zweiter, wenn es gar nicht anders geht. Entweder galt also Heroin Mantikorswacht, die mich eingeladen hatte, mehr in ihrer Familie, als ich vermutet hätte, oder man wollte Zipik’yarr günstig stimmen, dachte ich.

Wahrscheinlich beides, vor allem aber hätte die Etikette nichts anderes zugelassen: Der Sonnenpriester war ein Sonnleitner – Ehrwürden Teharador Hahnenlob Sonnleitner –, also quasi Teil der Gastgeber, ergo kam er hinter uns.

(Es gibt Augenblicke, da bewundere ich Meister der Etikette. Sie lesen aus der Art, wie jemand seine Handschuhe auszieht, seinen Stand heraus. Sie können tödliche Beleidigungen verteilen, gegen die sich der Beleidigte kaum wehren kann. – Und da hört meine Bewunderung denn auch schon wieder auf, denn so etwas ist in meinen Augen schäbig und feige. Ja, gewissermaßen wieder ein Armbrust-Problem!)

Wir wurden also eingelassen, in einer Reihenfolge, die möglicherweise Bände sprach, nur leider in einer Sprache, die mir fremder ist als Lunadarisch. Meinem Empfinden nach äußerst höflich führte uns ein Bediensteter mit der Bitte, uns noch einen Moment zu gedulden, in einen Raum mit Spielbrettern, einem Bücherschrank, Bildern an den Wänden und gepolsterten Sitzen an einem niedrigen Tisch.

„Dischumm Jarr“, sagte der Diener, und ich fragte mich, was er meinte.

Jeder, der viel mit Verwaltung zu tun hat (und es ist erschreckend, wie oft das im Dienst Zipik’yarrs vorkommt!), spricht und versteht Scharrukisch. Trotzdem begriff ich erst, als der Diener im selben Tonfall Namen und Titel von uns Priestern nannte, nur diesmal in Richtung von Leuten im Raum, daß er uns vorstellte.

Hinter dem Tisch erhob sich ein Ischarruku aus der Hockstellung, die seinem Volk so angenehm ist, bleckte seine metallgefaßten, spitzen Zähne und verbeugte sich.

Er trug Metallkrallen an den Stiefeln und ein Sichelmesser im Gürtel, krallenbesetzte Handschuhe lagen vor ihm auf dem Tisch, in Griffweite lehnten zwei gebogene Säbel an einem Waffenständer. Unter den Stoffalten seiner Tunika schaute an Armen und Beinen der eng anliegende Anzug heraus, den die Scharrukan tragen, um ihre Haut feucht und geschmeidig zu halten. Für scharrukische Verhältnisse war er also fast nackt.

Nur wenige Scharrukan würden sich so in der Öffentlichkeit sehen lassen, und selber Waffen zu tragen, fiele keinem von ihnen ein. Sie sind, so heißt es, die eigentlichen Regenten des Lobesamen Reiches Dreier Nationen. Ihre Macht erringen sie aber üblicherweise mit Schreibfeder, Abakus und einem entsetzlich guten Gedächtnis für Zahlen.

Und doch stammt der Name der Herrin Zipik’yarr aus ihrer Sprache und ihrer Kultur! Alte Geschichten erzählen von den Jarruschan, einer Kriegerkaste der Scharrukan, für die meisten Bewohner unseres Landes reine Legenden.

Nicht so für die Gemeinschaft der Schwertträger. Für uns sind die Jarruschan wahre Historie. Allerdings lange vergangene, so sehr uns auch in der Novizenzeit eingebläut wird, es gebe noch Jarruschan. Niemand von uns, nicht einmal einer unserer Lehrer, hatte je einen Jarr gesehen. Abbildungen, ja, auch Statuen, aber selbst die waren schon uralt. Jetzt stand so ein Jarr vor mir, wahrhaftig und ganz lebendig – !

– und grüßte und musterte mich nicht anders als die anderen, obwohl wir vor der Herrin Zipik’yarr doch so gut wie Kampfbrüder waren.

Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich ihn allein für diese Enttäuschung zum Zweikampf gefordert (den er vermutlich abgelehnt hätte). Inzwischen weiß ich, daß nur wenige lebende Wesen so großartig oder bedeutend sind, wie Erzählungen von ihnen behaupten. Ich stand (und saß dann) einem echten Jarr gegenüber – ja und?

Sobald wir saßen, bewirtete man uns mit Wein, oder was wir sonst verlangten, und kleinen Kuchen. Wir mußten immerhin lange genug warten, daß Ehrwürden Sonnleitner es schaffte, etliche Stücke Kuchen zu vertilgen. Was nicht heißt, daß wir arg lange zu warten hatten.

Die meisten Teharachtpriester, die ich kenne, sind rot und rund wie die aufgehende Sonne, der sie sich vermutlich anzugleichen versuchen. Ehrwürden Sonnleitner machte da keine Ausnahme. Wundern tat ich mich eher, was für unordentliche Eßmanieren dieser Diener des Herrn der Ordnung an den Tag legte. Er krümelte nicht nur, was ja manchmal nicht ausbleibt, er kleckerte auch.

Ich selbst hatte gerade erst zwei Mandelecken vertilgt, da trat ohne Ankündigung unser Gastgeber mit weiteren Gästen ein und nahm bei uns Platz: der vormalige Kastellan Wilmibert Sonnleitner, Verwalter der alse-ländischen Reichsdomäne Jeling im Rang eines Grefen.

Kein Protokollführer stellte uns vor, wie das bei Besuchen in Häusern wie dem der Sonnleitners üblich ist, sondern er selbst. Das Ganze war also ein sehr formloses, geradezu persönliches und ganz sicher inoffizielles Treffen. Sehr ungewöhnlich zwischen einer Priesterin des Abiso und einem Sonnleitner, noch mehr zwischen einem Schwertträger der Mantis und einem Sonnleitner, die sich kein bißchen kennen!

Immerhin war auch Ehrwürden Waldgunde Mantikorswacht anwesend, nicht als weitere sonnleitner’sche Gastgeberin, sondern ebenfalls als Gast. Ihren Räderstuhl schob ein Mann in schwarzem Samttalar mit aufgenähten Silberplättchen – Opilau Wieseling, der einstige Abiso-Patriarch von Mirsenstein, der Hauptstadt des Alse-Landes! (Der Frau Rothenloh unverkennbar herzlich begrüßte.)

Es müssen sehr üble Zeiten sein, wenn Diener der Zipik’yarr, des Abiso und des Teharacht einander derart friedlich und freundlich treffen! – Oder sehr glückliche.

Außer uns Genannten war noch ein Sonnleitner Ritter anwesend, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, und ein schnauzbärtiger, recht gut gekleideter Mann, den ich vom ganzen Auftreten her für einen erfolgreichen Söldnerführer hielt. Ich überlegte schon, ob ich ihn im Namen Eitelbrands begrüßen sollte, da wurde er mir als Almo Custos, Landgrefe vom Rauhen Landt, vorgestellt. Vom Rauhen Landt? – Ja, vom Rauhen Landt. Also genau von dem Grefanat, in dem meine künftige Wirkungsstätte liegen sollte!