Ganz offiziell ist das Hehlings-Fest eine Frühlingsfeier: Die Feldarbeit beginnt wieder, erste Saaten werden in die Erde gebracht. Vor allem aber wird von Gärten und Ställen der Winterschutz entfernt, wenigstens symbolisch, denn man muß ja noch mit Schnee und Frost rechnen. Gleichzeitig dankt man den Göttern – vor allem natürlich Schanurka – dafür, daß man gut über den Winter gekommen ist, Vieh und Vorräte nicht erfroren sind undsoweiter.
Dieses Fest wird überall in den Altmarken gefeiert, natürlich auch in Ligorosheim, wie ich nach meiner Rückkehr erfuhr, dort nur ein paar Tage später.
Als solches ist das Hehlings-Fest wohl wirklich „uralt“, wie der brav vorgetragene Festhymnus behauptet. (Der übrigens vor etwas mehr als hundert Jahren von einem Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft gedichtet worden war.)
Als „Hehlings-Feier“ geht es aber auf das 12. Jahr des Karpfens in unserem Welten-Zyklus zurück, ist jetzt also rund 340 Jahre alt.
Knapp drei Jahre vorher, im 9. Jahr der Spinne, waren die Lelub ins Land eingefallen, groteske Kreaturen, die bis dahin jeder Bürger des Lobesamen Reiches für Gruselgestalten aus Märchen und Sagen gehalten hatte. Sie kamen vom Meer und entvölkerten zuerst die Küstenregionen, bevor sie nach und nach ins Landesinnere vorstießen. Sie plünderten nicht, sie brandschatzten nicht, sie töteten bloß alles, was sich bewegte, und aßen es dann auf. (Zuweilen auch in umgekehrter Reihenfolge, wird erzählt.)
Natürlich konnte man gegen sie kämpfen. (Anders als viele Sagen behaupten, sind die Lelub weder unverwundbar, noch unsterblich.) Aber sie waren zahlreich, zogen in kleinen Gruppen umher und kamen oft in der Nacht. Hatten sie sich vollgefressen, verschwanden sie scheinbar spurlos. (Heute nehmen die meisten Gelehrten an, sie hielten einen Verdauungsschlaf im nächsten Gewässer.) Es ist schwer, gegen so etwas zu kämpfen.
In jener Zeit hatte jeder größere Ort oder Bezirk (auch in den Altmarken!) eine Art Magieberater, meist einen ausgebildeten Zauberer bzw. eine Zauberin. Dieser versuchte Mondkonjunktionen zu berechnen, beobachtete Magieknoten in der Umgebung, beriet die Leute bei Hausbau und Feldbestellung usw. usf.
(Ich gestehe Euch: Als ich im Geschichtunterricht erstmals davon erfuhr, wollte ich es nicht glauben und hielt diese hohe Stellung von Zauberern für eine abergläubische Verirrung jener Zeit. Inzwischen denke ich, daß das vielleicht gar keine schlechte Sache gewesen ist.)
Der damalige Berater von Rittertreu (bzw. Bockskappeln) war ein Lambeséle namens Sombak Mobotonga. Er war nicht nur ein äußerst fähiger Magier, sondern kam auch gut mit den Leuten zurecht. (Eine seltene Kombination!)
Als die Lelub Bockskappeln erreichten, „verhehlte“ (also: verbarg und schützte) er die Bewohner, indem er sie in Bäume, Sträucher und Blumen verwandelte, denn an Pflanzen hatten die fleischfressenden Meereskreaturen kein Interesse. Erst im Frühling hob Sombak den Zauber wieder auf. Diese Rettung und das Wiedererwachen feiern die Nunmehr-Rittertreuer mit dem Hehlings-Fest.
Inzwischen habe ich Eure Mutter gefragt, ob so ein Zauber überhaupt möglich ist. „Sombak muß die Leute und die Pflanzen sehr gut gekannt und sehr geliebt haben“, antwortete sie mir. Das sagte sie ungewöhnlich ernst, beinahe ehrfürchtig.
Abends bekam ich dann auch noch die wahre Hymne dieser Feier mit, einen Frage-und-Antwort-Gesang: „Wer kam vom Meer mit geschliffenen Zähnen? – Lelub! Lelub! – Wer läßt sie bald vor Hunger stöhnen? – Sombak Mobotonga! Sombak Mobotonga!“ Undsoweiter, undsofort, mit gefühlten hundert Strophen. Teils in altertümlichen Versen, teils in neu gedichteten, und je später die Stunde, desto gewagter wurden die Reime.
Zunächst hatte ich allerdings ein Problem: Der offizielle erste Teil dieser Feier geht normalerweise direkt in Tanz über, und dem folgt das große Schmausen. Stattdessen verlangten Frau Erla und ihr Mann Ruhe, Anstand und „Ehrfurcht vor Zipik’yarr“ … Was die Stimmung deutlich dämpfte, das Stimmengewirr aber kaum.